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Mutiges Geständnis: So ist das Leben mit Essstörung WIRKLICH

"Genau das will ich mit diesen Bildern zeigen."
"Genau das will ich mit diesen Bildern zeigen." Credit: Ben Wolf

Bloggerin und Autorin Jana Crämer erzählt in ihren eigenen Worten von ihrem Kampf mit der Essstörung „Binge Eating“ und wie ihr bester Freund, ein mutiges Musikvideo und die gofeminin-Leserinnen ihr Leben veränderten.

Inhaltsverzeichnis

Fragt mich heute jemand, ob ich ein Stück Kuchen essen möchte, kann ich dankend verneinen. Zumindest in den guten Phasen. Nicht, weil ich Kuchen nicht mögen würde. Ich liebe Kuchen. Aber trotzdem weiß ich, dass es nie bei einem Stück bleibt. Schon ein kleiner Bissen löst in mir einen kompletten Kontrollverlust aus.

Mein Herz beginnt zu rasen, meine Hände werden zittrig und kalter Schweiß tritt auf meine Stirn. Ab diesem Moment bin ich wie fremdgesteuert und habe nur noch einen Gedanken: Essen. Nein, falsch. Ich möchte ehrlich sein: Fressen. Anders kann ich das wahllose Hineinstopfen von Unmengen an extrem kalorienreichen Nahrungsmitteln wirklich nicht nennen. Je ungesünder, desto befriedigender. Ich schäme mich dafür und schon ab dem ersten Bissen ekle ich mich nicht nur vor dem Essen, sondern noch viel mehr vor mir selbst – trotzdem kann ich nicht aufhören.

Im Video: Jana Crämer spricht Betroffenen aus der Seele

Mutiges Geständnis: So ist das Leben mit Essstörung WIRKLICH

„Heute traue ich mich, darüber zu sprechen“

Inzwischen traue ich mich auszusprechen, dass ich an der Essstörung „Binge Eating“ (dt. „Fress-Gelage“) leide. Seit ich denken kann, habe ich mehr als die anderen gewogen. Es gab keine Diät, die ich nicht ausprobiert habe – Low Carb, Slow Carb, No Carb. Von Mal zu Mal waren es immer ein paar Kilo mehr, die ich mit mir rumschleppte. Bei 170 Kilogramm resignierte nicht nur ich, sondern auch die Waage.

„Es ging nur darum, alles zu vernichten.“

Ich war Managerin einer deutschen Popband und begleitete auch die Konzert-Touren durch ganz Deutschland. Während ich mich tagsüber unter den Blicken der Bandmitglieder meist nur von Salat ernährte, schloss ich mich nach den Auftritten mit den heimlich zusammengepackten Resten vom Catering im Hotelzimmer ein. Die widerliche Masse aus Joghurts, Pizza und Unmengen an Süßigkeiten quoll in meinem Magen so sehr auf, dass ich oft vor Schmerzen gekrümmt bis zum Morgen wach lag.

Ich kannte Bulimie und Magersucht, aber von „Binge Eating“ hatte ich noch nie etwas gehört. Ich dachte lange Zeit, dass meine ständigen Fressflashs einfach nur mangelnde Disziplin seien. 10.000 Kalorien pro Tag waren da keine Seltenheit und an das Gefühl von Hunger, geschweige denn Sättigung kann ich mich auch heute nicht mehr erinnern.

Bei meinen ständigen Fressanfällen ging es nie darum, Essen zu genießen. Es ging nur darum, alles zu vernichten – und wenn es Olivenöl mit Zuckerstücken war. Immer mit dem festen Vorsatz, dass es das allerletzte Mal sei. Genau solange, bis ich wieder – umgeben von leeren Eispackungen und Pizzakartons – heulend auf dem Bett lag und mich stundenlang mit schmerzendem Magen hin und her drehte, bis ich endlich vor Erschöpfung einschlief.

Im Podcast: Bei „Echt & Unzensiert“ spricht Jana über Binge Eating

Batomae schreibt „Unvergleichlich“

Als ich unter den beruflichen Anforderungen und meinem maßlosen Übergewicht zusammenbrach, ließ ich meinen Hass auf mich und meine Disziplinlosigkeit an meinem besten Freund Batomae aus. Ich hatte ihn 2011 kennengelernt und je mehr wir uns anfreundeten, desto mehr missbrauchte ich ihn, um Druck abzulassen. Je sensibler und liebevoller er auf mich einging und mir den Rücken stärkte, desto grausamer herrschte ich ihn an.

Es dauerte fast 3 Jahre, bis ich mir ein Herz fassen konnte, aber Mitte 2014 fing ich an, all meine Gedanken für ihn aufzuschreiben. Ohne sie nochmal zu lesen, ohne sie zu schönen. Ich wollte ihm meine geheimsten Ängste anvertrauen, um mich bei ihm zu entschuldigen. Diese Entschuldigung war da mehr als überfällig und ich verstehe bis heute nicht, wie er meine emotionale Grausamkeit so lange ertragen konnte.

Ich legte ihm mit meinem schriftlichen Seelen-Striptease wirklich mein Leben in die Hand und hatte ehrlich gesagt schreckliche Angst, dass er sich voller Abscheu und Ekel von mir abwenden könnte. Doch Bato antwortete mir mit einem Song, um mir all das zu sagen, was ich sonst niemals hätte annehmen können.

Du glaubst
Du bist nicht gut genug
Und du denkst dich klein
Weil du dir nicht reichst.

Könntest du durch meine Augen seh’n
Würdest du wie ich auch zu dir steh’n
Jeden deiner Fehler lieben
Jedes Detail an dir ist heilig
Denn genauso wie du bist
Bist du unvergleichlich.

(Batomae)

„Unvergleichlich“ war seine Antwort auf all die quälenden Gedanken, meine ständigen Vergleiche mit den Menschen in meiner Umgebung, den Abbildungen auf den Hochglanz-Magazinen und den Fotos der Schönen und Schlanken, mit denen ich mich selbst ständig bei Facebook, Instagram und Co. quälte.

Ein schonungslos ehrliches und mutiges Musikvideo

Bato pumpte mich mit so viel Mut voll, meine Geschichte öffentlich zu machen, da er sich ganz sicher war, dass es vielen so erging wie mir. Ich dachte immer, ich wäre ganz allein mit diesen Gedanken. Er nahm mich in den Arm und sagte nur, „Vertrau‘ mir, du bist ganz bestimmt nicht allein.“ Wir entschieden uns, ein schonungslos ehrliches Musikvideo zu drehen, um seinen Song mit meiner Geschichte verschmelzen zu lassen, um wachzurütteln und Augen zu öffnen.

Überlegten wir anfangs noch, mich von einer Schauspielerin halbnackt vorm Spiegel, beim Fressen und anschließenden Übergeben spielen zu lassen, bin ich heute sehr froh, dass wir mich in diesen intimen Momenten gefilmt haben. So war es einfach am ehrlichsten. Wir stellten es online und waren stolz, dass unsere Freunde es bei Facebook teilten und sich nicht dafür schämten, dass ich mich so zeigte. Ganz langsam stieg die Zahl der Aufrufe und wir freuten uns unglaublich darüber.

Doch als ich eines morgens aufwachte, traute ich meinen Augen nicht. Ich dachte wirklich, ich würde träumen. Die Aufrufzahlen bei YouTube waren über Nacht förmlich explodiert. Als ich schlafen ging, waren es noch 3.000 – an diesem Morgen waren es über 150.000. Mein Postfach quoll über und ich hatte 23 Anrufe in Abwesenheit. Jedes Mal, wenn ich wieder beim Video schaute, waren es Tausende von Aufrufe mehr.

Ich stand von jetzt auf gleich senkrecht im Bett, mein Herz überschlug sich fast und als ich meinen besten Freund anrief, war ich so außer Atem, dass er dachte ich würde joggen. Aber nur für einen kurzen Moment, denn er kannte mich gut genug, dass er diese sportliche Aktivität direkt wieder ausschließen konnte.

An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Instagram, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.

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„Dieser Morgen hat mein Leben verändert.“

Als wir sofort nachforschten, stieß ich auf einen Artikel bei gofeminin. Und er wurde zu diesem Zeitpunkt bereits über 10.000 Mal geteilt. Niemals hätte ich daran geglaubt, dass es eine Redaktion geben würde, die so mutig wäre, ein Video zu verbreiten, dass mich beim Fressen und Kotzen zeigt, und noch weniger hätte ich geglaubt, dass über 10.000 Frauen so mutig wären, es zu teilen, um ein Zeichen zu setzen.

Das Thema Essstörungen war in meinem Kopf so lange ein so großes Tabu, aber hier passierte etwas Unglaubliches. Es fühlte sich an, als würden über 10.000 Frauen aufstehen und sagen: „Nein, Essen ist eben nicht die einfachste und normalste Sache der Welt.“ Ich fühlte mich so unglaublich verstanden.

Als Bato mich unterbrach, weil sich meine Stimme vor Begeisterung fast überschlug und ich eh keinen geraden Satz mehr herausbrachte, sagte er nur: „Siehst du, Jana – du bist nicht allein.“ Ich brach in Tränen aus und heulte wie ein Schlosshund und noch heute, wenn ich an diesen Morgen zurückdenke, habe ich eine Gänsehaut. Noch heute fühlt es sich an wie eine Umarmung, wenn unser Video irgendwo auftaucht. Dieser Morgen hat mein Leben verändert, hat mich verändert.

Konzert-Lesungen, ein Blog – und Rückschläge

Inzwischen fahren mein bester Freund, seine Brüder und ich gemeinsam zu Schulen in ganz Deutschland und lassen für die Schülerinnen und Schüler meine Geschichte und seine Musik bei Konzert-Lesungen verschmelzen. Wir möchten zeigen, dass Probleme und Ängste in einer Freundschaft ebenso Platz haben wie Glücksmomente.

Ich bin kurz davor, eine Therapie zu beginnen und schreibe darüber auf meinem Blog „Endlich ich“. Und auch hier erzähle ich nicht nur von den schönen Momenten, sondern ebenso von den Rückschlägen. Jetzt gerade ist leider so eine schlechte Phase, denn ich versuche meine Angst vor der Therapie mit Essen zu überdecken. Dadurch habe ich in 10 Tagen fast 13 Kilo zugenommen. Aber auch Rückschläge gehören dazu und ich weiß, dass es schon ein Fortschritt ist, dass ich sie eingestehe. Vor mir und vor anderen.

Im Video: Selbstbild-Experiment zeigt, wie sehr Frauen leiden

Mutiges Geständnis: So ist das Leben mit Essstörung WIRKLICH

Ich muss mich nicht schämen. Für nichts. Deshalb habe ich mich auch nackt fotografieren lassen, um vor Horror-Crash-Diäten zu warnen. Ja, um zu zeigen, dass jede Essstörung nicht nur Narben auf der Seele hinterlässt, sondern auch auf dem Körper. Meiner ist durch tiefe Risse, Furchen und schwabbelige Fettschürzen maßlos entstellt.

„Ich weiß jetzt, dass ich nicht alleine bin.“

Ende des Jahres geht es mit meinem besten Freund und seiner Band quer durch ganz Deutschland auf „In Gedanken“-Tour. Unsere Konzertlesung – dann aber für Jugendliche und Erwachsene – ist das Vorprogramm für sein Konzert. Ja, und wenn er dann „Unvergleichlich“ singt, werden bei mir wieder Tränen kullern, aber ich weiß jetzt, dass ich nicht alleine bin.

Und noch eins weiß ich schon jetzt ganz sicher: Nach dem Konzert werde ich mich nicht mit den Catering-Resten im Zimmer einschließen, sondern mit unseren Besuchern den Abend ausklingen lassen und mich unterhalten. Über Glücksmomente und über Probleme und Ängste, denn die gehören genau so dazu. Schonungslos und ehrlich.

Jana Crämers Roman „Das Mädchen aus der 1. Reihe“ erschien 2015.