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Parenting like it’s 1999: Warum 90er-Erziehung Kindern heute so guttut

Foto aus den späten 90er Jahren zweier Freundinnen auf dem Rücksitz eines Autos.
© Getty Images/ Jena Ardell

Wie Retro-Erziehung Familien ruhiger und glücklicher macht

Das Comeback der 90er-Erziehung

Nostalgie trifft Pädagogik: So stärkst du mit „Parenting like it’s 1999“ die Bindung zu deinem Kind und schützt es vor digitalem Stress.

Es ist Samstagabend, der Fernseher flimmert, die ganze Familie sitzt gemeinsam auf dem Sofa. In der Hand keine Smartphones, sondern eine Schale Popcorn. Auf dem Bildschirm läuft eine DVD, die man sich zuvor in der Videothek ausgeliehen hat, mit der Hoffnung, dass sie nicht zu sehr verkratzt ist und fehlerfrei läuft.

Klingt nach einer längst vergangenen Zeit? Stimmt. Aber genau diese Szenen erleben gerade ein Revival. Immer mehr Eltern wünschen sich Momente, in denen ihre Kinder nicht im Bildschirm verschwinden, sondern echte gemeinsame Erfahrungen machen. Es sind vornehmlich die Eltern, die selbst in den 90ern groß geworden sind. Und der Trend bringt erstaunlich viel pädagogisches Potenzial mit.

Warum Familien wieder analoger werden wollen

Studien zur Mediennutzung zeigen seit Jahren in dieselbe Richtung: Kinder und Jugendliche verbringen täglich mehrere Stunden mit digitalen Geräten. Sie zocken an Konsole und Computer, scrollen stundenlang durch Apps oder chatten digital mit Freund*innen. Laut einer Studie der OECD verbringen Kinder immer früher immer mehr Zeit vor Bildschirmen. Gleichzeitig klagen viele Eltern darüber, dass gemeinsame Aktivitäten zu kurz kommen.

Die Sehnsucht nach ein bisschen ‚Zurück‘ und mehr gemeinsamer Zeit ist also nachvollziehbar. Die Idee des „Parenting like it’s 1999“-Trends steht dabei für den bewussten Versuch, die digitale Dauerbeschallung zu unterbrechen und wieder Zeit zu schaffen, in denen Familien ohne Ablenkung wirklich zusammen sind.

Was steckt hinter der 90er-Jahre Erziehung?

Der Trend zeigt sich gerade vermehrt bei Tiktok und Instagram. In den USA hat ein Vater für seine Familie beispielsweise eine Videothek ins eigene Haus gebaut, wie ein Bericht im Guardian erläutert. Damit die Familie gemeinsam einen physischen Ort besuchen kann, um zusammen einen Film auszusuchen und damit die Vorfreude und Spannung auf den gemeinsamen Filmabend zu steigern. So wie Millionen Familien es in den 90ern regelmäßig gemacht haben.

Andere Familien aus Portland haben sich zusammen getan und ihren Kindern analoge Telefone in die Kinderzimmer gestellt, damit die Kids miteinander telefonieren können, ohne dabei auf einen Bildschirm zu starren.

Doch egal ob Videothek im eigenen Haus, analoge Telefone oder regelmäßige Brettspielnachmittage, Ziel all dieser Aktionen ist, die Beziehungen untereinander zu verbessern. Einander wieder richtig zuzuhören und sich nicht andauern von Bildschirmen, Nachrichten und Memes ablenken zu lassen.

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Und dabei geht es den Eltern keinesfalls darum, die Zeit zurückzudrehen. Sondern darum, bewusst alte Muster zu reaktivieren, die Nähe und Gespräche fördern und die die Welt der Kinder wieder ein bisschen langsamer machen.

Tipps für die Praxis

Pädagogisch betrachtet erfüllt die Erziehung wie in den 90ern gleich mehrere Funktionen, die gerade für Kinder ab 10 Jahren entscheidend sind:

Soziale Kompetenzen stärken
Beim Brettspiel müssen Regeln akzeptiert, Niederlagen ausgehalten und gemeinsame Strategien entwickelt werden. Genau das sind Fähigkeiten, die Kinder in digitalen Räumen oft weniger trainieren.

Stress reduzieren
Zahlreiche Studien belegen, dass ständige Bildschirmzeit mit höherem Stresslevel und Schlafproblemen korreliert. Wer regelmäßig bildschirmfreie Inseln schafft, unterstützt die emotionale Ausgeglichenheit.

Selbstwirksamkeit erfahren
Ein selbst gebautes Vogelhaus oder ein gemeinsam gekochtes Menü vermittelt Kindern ein anderes Erfolgserlebnis als das nächste Level im Videospiel.

Familiäre Bindung stärken
Ohne Ablenkung bleibt mehr Raum für Gespräche, gemeinsames Lachen oder schlicht für das Gefühl: Wir sind zusammen, wir gehören zusammen.

Wie lässt sich ‚Erziehen wie in den 90ern‘ praktisch umsetzen?

Niemand muss jetzt sofort das WLAN kappen oder Laptops, Handys und Tablets hinter Schloss und Riegel packen. Viel wirkungsvoller ist ein sanfter Einstieg in analoge Inseln. Hier einige erprobte Ideen:

  • Retro-Abende: Einmal pro Woche gibt es einen Familienabend wie früher, mit Brettspiel, Pizza aus dem Ofen und einem Filmklassiker.
  • Analog-Zeitfenster: Bestimmte Stunden (z. B. Sonntagvormittag) sind komplett bildschirmfrei. Die Eltern machen selbstverständlich mit.
  • Draußen-Aktivitäten: Radtouren, Picknick, Sport im Park, alles, was man gemeinsam draußen machen kann, sollte möglichst ohne digitale Begleitung stattfinden.
  • Analoge Kreativität: Gemeinsam basteln, kochen oder kleine Projekte starten. Für ältere Kinder ab 10 Jahren können das auch DIY-Projekte sein, wie ein Radio bauen oder eine Lampe zusammenlöten.

Der entscheidende Punkt für Erfolg oder Misserfolg der Retro-Erziehung ist, dass Eltern nicht nur fordern, sondern aktiv bei allem mitmachen. Nur dann entsteht nämlich wirklich ein Gemeinschaftserlebnis.

Ist das nicht alles rückwärtsgewandt?

Eine berechtigte Frage. Denn natürlich sind digitale Medien Teil unserer Realität und Kinder müssen lernen, verantwortungsvoll damit umzugehen. Der Mini-Retro-Trend bedeutet deshalb nicht, Smartphones oder Social Media zu verteufeln. Sondern einfach nur einen Gegenpol zu schaffen und eine bessere Balance zwischen digital und analog, Online-Kontakten und echten Begegnungen zu schaffen.

Kinder gewöhnen sich schnell an solche Rituale, wenn sie nicht als Strafe, sondern als Bereicherung vermittelt werden.

Dieser Trend ist mehr als Nostalgie

Als Mutter von zwei Kindern weiß ich, wie verlockend es manchmal ist, sich mithilfe eines Bildschirms ein ruhiges Stündchen zu erkaufen. Aber ich erlebe genauso, wie sehr meine Kinder aufblühen, wenn wir alle abschalten, im wörtlichen Sinn. Parenting like it’s 1999 mag auf den ersten Blick also nostalgisch klingen, ist aber im Kern eine Antwort auf die Überlastung, die viele Familien heute spüren.

Analoge Familienzeit ist kein Rückschritt, sondern ein bewusstes Innehalten. Ein Moment, in dem wir uns wieder daran erinnern, was uns verbindet.

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