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Schamlos glücklich: Warum sich jeder eine Vulva an die Wand hängen sollte

Vulvaversity Kollektiv: Fotoshooting für den Vulva Kalender
Vulvaversity Kollektiv: Fotoshooting für den Vulva Kalender Credit: Vulvaversity Kollektiv

In unserer Gesellschaft ist das Thema weibliche Vulva immer noch viel zu schambehaftet. Das zu ändern ist das Anliegen des Vulvaversity-Kollektivs, fünf Frauen, die sich dafür einsetzen, die Vulva zu entmystifizieren und zu zeigen, wie sie wirklich ist. Wir sprachen mit Mitgründerin Indra Küster über die Idee, einen Vulva-Kalender herauszubringen.

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Zugegeben: Klickt man die Seite des Vulvaversity Kollektivs an, verschluckt man sich erstmal an seinem Kaffee. Denn so haben sicher die meisten von uns noch keine Vulva gesehen. So realistisch und offen. Mal so richtig hinschauen. Und genau das ist der Moment, wo man merkt, wie schamhaft doch der Umgang mit der weiblichen Sexualität ist.

Und genau deshalb hat uns das Engagement der fünf Gründerinnen des Kollektivs sofort begeistert. Wir haben also nicht lange gezögert, als wir gemeinsam mit MSTRY Berlin eine Initiative gesucht haben, die wir mit einem Teil des Erlöses unserer La Dolce Vulva-Socken unterstützen können. Mit dem Geld und vor allem ihrem Vulva-Kalender sowie ihrem Vulva-Museum kann das Kollektiv jetzt noch mehr Initiativen unterstützen, die sich für Aufklärung und das Sichtbarmachen der Vulva einsetzten, aber keine großen finanziellen Mittel haben.

Wir haben uns mit Mitgründerin Indra Küster unterhalten, woher die Idee zum Kollektiv kam, warum man sich 365 Vulven an die Wand hängen sollte und was sie sich für junge Mädchen als Aufklärung wünscht.

Wer steckt hinter dem Vulvaversity Kollektiv und welches Anliegen steckt dahinter?

Wir sind fünf Freundinnen: Janna, Gwen, Antonia, Joana und Indra. Bei einem gemeinsamen Kneipenabend vor drei Jahren ist uns aufgefallen, wie wenig wir über die Vulva wissen und wie sehr das Thema gesellschaftlich, aber auch für uns mit Scham belastet ist. Das wollten wir gerne verändern. So ist die Idee für den Vulva-Abreißkalender entstanden und war nicht mehr zu stoppen. Der Kalender zeigt 365 Fotos von Vulven, unverblümt, ehrlich und in all ihrer Vielfalt. Wir wollen die Vulva von der Scham befreien, aufklären, mit Normvorstellungen aufräumen und zu Gesprächen anregen.

Wir wollen die Vulva entmystifizieren und zeigen, wie sie wirklich ist: unglaublich divers und normenfrei.

Warum ist die Vulva immer noch ein Tabu, während der Penis recht offenherzig thematisiert wird?

Ich glaube, das ist eng mit der Geschichte der Vulva verknüpft. Einst wurde die Vulva als heilig verehrt. Sie galt als Tor ins Leben, man sagte, dass sich mit ihr der Teufel verjagen und Stürme beruhigen ließen. Mit dem Machtanstieg der monoteistisch-patriarchalen Religionen veränderte sich das. Die Vulva und die weibliche Sexualität wurde mehr und mehr verteufelt, stigmatisiert und unterdrückt.

Der weibliche Sexualtrieb galt zunehmend als krankhaft. Frauen hatten nur zu Reproduktionszwecken Sex zu haben und dabei keine Lust zu empfinden. So verbreitete sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa sogar das Beschneiden, Verbrennen und Verätzen von Vulven als Methode, um sexueller Lust entgegenzuwirken. Die Vulva ist gesellschaftlich ins Exil geraten. Vulvaversity will ihr mit Leichtigkeit und freundlicher Provokation einen Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft ermöglichen.

Was muss anders laufen in der Aufklärung junger Menschen? Wird Mädchen hier weniger Selbstbewusstsein mitgegeben?

Interessant ist, dass die Vulva in vielen Aufklärungsbüchern noch nicht einmal dargestellt wird. Unter „weibliche Geschlechtsorgane“ werden oft nur die inneren Organe mit Gebärfunktion abgebildet. Die Vulva fehlt. Vulva und Klitoris sind hauptverantwortlich für sexuelle Lust und sexuelle Befriedigung.

Wenn dieser Körperteil bei der Aufklärung keine Erwähnung findet, ist es nicht möglich, dem Thema weibliche Lust und Sexualität gerecht zu werden. Denn dann fehlt der Aspekt von Lust und Sexualität unabhängig der Reproduktion. Über den Penis und die Hoden wird diesbezüglich viel selbstverständlicher gesprochen. Das ist nur einer von vielen Aspekten, der zeigt, dass Mädchen* tendenziell deutlich weniger sexuelles Selbstbewusstsein mit auf den Weg gegeben wird, als Jungs*.

Wie hast du selbst die Aufklärung und den Sexualkundeunterricht in deiner Kindheit erlebt?

Aufklärung hat bei mir quasi gar nicht stattgefunden. Die Schule hat sich irgendwie darum gedrückt und mit meinen Eltern war ich darüber auch nicht im Gespräch. Vieles habe ich irgendwie aufgeschnappt, aber ich erinnere mich an das Gefühl im Dunkeln zu tappen und an große Verunsicherung.

Video: Erschreckende Studie zum Thema Bodypositivity

Schamlos glücklich: Warum sich jeder eine Vulva an die Wand hängen sollte

Was hättest du dir gewünscht, wie es besser gewesen wäre?

Die Verschwiegenheit um das Thema Sexualität und das Gefühl, dass es sich um was Begehrenswertes, aber auch Verbotenes und Schambehaftetes handelt, hat mich verunsichert. Ich hätte mir offene Gespräche gewünscht oder zumindest ein gutes Buch zum Thema. Ich hätte mich über Leichtigkeit und weniger Beschämung vonseiten der Erwachsenen gefreut. Über die Anatomie der Vulva hätte ich auch sehr gerne Bescheid gewusst. Aber ich hatte damals das Gefühl, dass sich die meisten Erwachsenen damit auch nicht wirklich auskennen und damit hatte ich wahrscheinlich recht.

Was möchtet ihr jungen Mädchen mitgeben?

Dass ihr Körper genau richtig ist, wie er ist. Vulven haben ganz verschiedene Formen und die Form verändert sich in der Pubertät. Jede Vulva sieht unterschiedlich aus. Es gibt kleine Vulvalippen und große Vulvalippen, unterschiedliche Größen und Formen der Klitoris, verschieden starker Ausfluss und Blut. All das ist völlig normal und für nichts braucht mensch sich zu schämen! Die Klitoris ist ein ganzes, großes Organ, das nur für die Lust da ist.

Ich würde gerne sagen: Nimm dir Zeit, die eigene Lust zu erkunden, für Lust brauchst du dich nicht zu schämen. Ich würde ihnen gerne mitgeben, dass es wichtig ist, mit ihren Sexualpartner*innen darüber zu sprechen, was sie mögen und sich wünschen und was nicht und was ihre Partner*innen sich wünschen und was nicht. Und dass es wichtig und cool ist, die eigenen Grenzen zu achten.

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Vulvaversity Kollektiv: Vulva-Museum und Vulva Kalender
Credit: Vulvaversity Kollektiv

Warum ein Kalender?

Während ein Buch verschlossen im Regal steht, ist ein Kalender ein Alltagsgegenstand. Er hängt irgendwo an der Wand, Menschen gehen daran vorbei und jeden Tag interagiert man mit ihm. Die abgerissenen Kalenderblätter können zu Notizzetteln, Briefen, Einkaufslisten etc. weiterverwendet werden. So bietet der Kalender zahllose Diskussionsanstöße und Möglichkeiten für Gespräche. Und die Vulva kann, Kalenderblatt um Kalenderblatt, zu dem werden, was sie ist: etwas ganz Normales und Alltägliches.

Wie entstanden die Bilder zum Kalender?

Wir haben Fotoshoot-Events in verschiedenen Städten organisiert. In einem mobilen Fotostudio haben wir die Fotos gemacht. Das Bild der jeweiligen Vulva haben wir gleich ausgedruckt, sodass jede*r ein Foto der eigenen Vulva mit nach Hause nehmen konnte. Drumherum gab es viel Raum für Austausch, Kaffee und Kuchen, Musik, manchmal abends noch einen Film zum Thema. Es ist oft eine sehr besondere und vertraute Stimmung entstanden und viele sind stundenlang oder den ganzen Tag geblieben. Es sind viele Gespräche über Themen entstanden, die sonst selten Raum finden.

Das Team vom Vulvaversity Kollektiv: Janna, Gwen, Antonia, Joana und Indra
Credit: Vulvaversity Kollektiv

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Wer hat mitgemacht und was waren die Beweggründe der Frauen?

Es haben viele sehr verschiedene Menschen mitgemacht. Die jüngste Person war 18 und die älteste 81. Was sie alle verband, war der Wunsch, die Vulva aus dem gesellschaftlichen Exil zu holen und für Aufklärung zu sorgen.

Welche Idee steckt hinter dem „Vulvamuseum – to go“?

Wir haben viele Anfragen von Menschen bekommen, die in Kliniken, Praxen oder als Hebammen arbeiten und die Fotos gerne im Rahmen der Aufklärungsarbeit nutzen wollen. Der Kalender ist dafür nicht das richtige Format. Daher haben wir dieses Jahr entschieden, noch ein zweites Produkt zu entwickeln: Das „Vulvamuseum – to go“, ein Fächerbuch mit 60 Fotos, das besonders gut für Aufklärungsarbeit geeignet ist, aber auch, um die Vielfalt von Vulven alleine oder gemeinsam zu bestaunen. Zu jeder Vulva gibt es genauere Informationen, beispielsweise zum Alter, ob die Person schon geboren hat, ob die Vulva rasiert oder unrasiert ist, erigiert oder nicht erigiert, ob sie angeboren ist oder eine Neovulva etc. Zusätzlich gibt es anatomische Zeichnungen der Vulva und der Klitoris.

Welche Pläne/ Aktionen sind derzeit geplant?

Gerade sind wir noch mittendrin, den Vulvakalender 2022 und das „Vulvamuseum – to go“ bekannt zu machen und all die Bestellungen zu verarbeiten und zu verschicken. Wir sind selber schon ganz gespannt darauf, wie es weitergeht, welche Aktionen wir als nächstes machen werden und ob es einen Kalender für 2023 geben wird oder nicht. Wer up to date bleiben will, kann uns gerne über Social Media folgen oder den Vulvaversity Newsletter abonnieren.

Ein Peniskalender wäre im Zuge der Gleichberechtigung nett. Glaubt ihr, dass sich Männer hier ähnlich unter Druck setzen wie Frauen?

Absolut! Wir glauben, dass es auch bezüglich Penis und Hoden viel Scham, Normvorstellungen und sozialen Druck gibt. Ein Peniskalender wäre bestimmt spannend! Wir sind mit dem Vulvakalender und dem „Vulvamuseum – to go“ gut ausgelastet, würden uns aber sehr freuen, wenn andere die Initiative ergreifen und einen Peniskalender gestalten würden.