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Meine Erfahrung: Worauf uns Selbstverteidigungskurse nicht vorbereiten

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97 Prozent aller Frauen haben in ihrem Leben bereits Belästigung oder sexuelle Übergriffe erfahren. Ich möchte heute von einem Erlebnis vor fast 20 Jahren berichten, was mich bis heute nachhaltig geprägt hat.

„Schreib mir, wenn du zu Hause bist“ – wer kennt diesen Satz nicht. Hat man ihn ja unzählige Male gehört und selbst ausgesprochen. Erst vor kurzem wurde mir wieder bewusst, dass ich seit meinen frühen Kindheitstagen bis zum heutigen Tag als Frau immer eine unterschwellige Furcht im Hinterkopf mit mir herumtrage. Eine Furcht von einem Mann bedrängt und verschleppt zu werden. Wörter wie sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und gar Mord kommen mir in den Kopf.

Im Alltag bedeutet das konkret, dass kein Heimweg in der Dunkelheit, keine Nachhausefahrt im Taxi entspannt ist und wir als Frauen immer wachsam sein müssen. Im Zuge der furchtbaren Geschehnisse rund um Sarah Everard, die mit ihren 33 Jahren genauso alt war wie ich jetzt, ist mir eine Erinnerung aus der Jugend wieder in den Kopf gekommen.

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Dieses eine Erlebnis vor bald 20 Jahren und die Erkenntnisse aus dem Selbstverteidigungskurs, zu dem mich meine Mutter anmeldete, sind bis heute nicht vergessen.

Im Kurs lernten wir drei essentielle Dinge. Den Umgang mit einem Verfolger, was zu tun war im Falle eines Angriffs und – der wohl wichtigste Punkt – was wir als junge Mädchen vorbeugend tun konnten, um nicht als potentielle, leichte Opfer wahrgenommen zu werden.

Zum Zeitpunkt des Trainings wusste ich noch nicht, dass ich nur wenige Jahre später als 15-Jährige von einem Mann verfolgt werden sollte und tatsächlich das Erlernte aus dem Kurs anwenden musste.

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Meine Erfahrung: Worauf uns Selbstverteidigungskurse nicht vorbereiten

Ein einschneidendes Erlebnis mit 15 Jahren

Es war nach Schulschluss, vermutlich eine Stunde am frühen Nachmittag, als ich auf dem Weg zu meinem damaligen Freund war. Es war kein dunkler Tag mit Wind und Regen, sondern ein sonniger Frühlingstag. Wie üblich nahm ich den Bus aus der Stadtmitte, der mich an den Stadtrand bringen sollte zu einem Viertel im Grünen. Schon an der Bushaltestelle hatte ich das Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Wie unglaublich stark doch die menschliche Intuition ist.

Unzählige Male hatte ich an dieser Bushaltestelle gestanden und doch heute das erste Mal mit einem neuen Gefühl im Bauch. Ich erkannte den Mann, der mich anstarrte, schnell. Er wich mir nicht aus, als sich unsere Blicke trafen. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Im ersten Moment dachte ich mir nicht viel dabei.

Als junge Frau lernte ich erst noch den Umgang mit Männern und seine Blicke wusste ich nicht richtig einzuordnen. Als der Bus um die Ecke kam und ich einstieg, fiel mir plötzlich auf, dass er ein paar Reihen hinter mir saß. Das mulmige Gefühl in meinem Magen wollte sich nicht legen. Ich wusste es einfach – er beobachtet mich. Mehrmals drehte ich meinen Kopf, um mich zu vergewissern, und jedes Mal fixierte er mich.

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Im Selbstverteidigungskurs hatte ich gelernt selbstbewusst und stark zu wirken.

Mit etwas Mut beschloss ich aufzustehen, an ihm vorbei zu gehen und mich in den hinteren Teil des Buses zu setzen. So sehr hoffte ich in diesem Moment, es würde vorbei sein und er würde mich jetzt in Ruhe lassen.

Bis heute habe ich sein Gesicht vor mir. Er war recht schmächtig, fast klein, mit dunklen, schwarzen Haaren, die er kurzgeschnitten trug. Seine hervorstehenden Augen nichtssagend und kalt. In den Momenten, in denen sich unsere Blicke trafen, gab es kein Lächeln, weder in seinen Augen noch auf seinen Lippen. Das fühlte sich unnormal und angsteinflößend an.

Nach einer halben Stunde kam ich der Endhaltestelle näher und war darauf bedacht schnell auszusteigen. Vor mir lag nun ein kurzer Spaziergang zum Haus meines Freundes, welches abseits der Hauptwohnviertel lag. An Wiesen entlang und durch einen kleinen Wald sollte ich laufen. Was sonst kein Problem für mich war, war auf einmal fast ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Ich hatte Angst.

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Die richtige Reaktion, wenn es drauf ankommt

Um mich abzusichern, blickte ich über die Schulter. Ich konnte es nicht glauben: Er war tatsächlich auch hier ausgestiegen. In mir stieg die Panik auf. Was konnte ich jetzt tun? Meine Beine wollten nur noch eins: wegrennen. Im Kurs hatte ich gelernt, nur dann zu rennen, wenn das Ziel nicht weit war. Mein Ziel war viel zu weit weg. Meine Gedanken rasten.

Plötzlich sah ich eine Frau mit ihrem Kinderwagen auf der anderen Straßenseite. Ich überlegte nicht lange und rannte so schnell ich konnte. Als ich ihr näherkam, fing ich an um Hilfe zu rufen. Sie drehte sich um und blieb stehen. Eine unfassbare Erleichterung machte sich in mir breit. Tränen liefen über mein Gesicht, als ich ihr von dem Vorfall erzählte.

Ich drehte mich um und da war er immer noch – auf der anderen Straßenseite. Als ich auf ihn zeigte, erstarrte er und rannte in die andere Richtung davon.

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Bis heute weiß ich nicht, wer er war und was er vorhatte.

Vielleicht starrte er nur gerne, war verwirrt und es war ein einmaliges Erlebnis, auch für ihn. Von diesem Tag an fuhr ich nie wieder mit dem Bus zu meinem Freund – ich habe stattdessen einen Teil Unabhängigkeit aufgegeben. Ab diesem Tag ließ ich mich von meinen Eltern fahren.

Zwei Jahrzehnte später erinnere mich noch gut an den Vorfall. Die Gefühle kommen hoch, während ich diese Zeilen schreibe. Was hat dieser Nachmittag mich gelehrt? Seit diesem Moment bin ich noch vorsichtiger – aufmerksam und wachsam, wo immer ich alleine laufe.

Im Selbstverteidigungskurs hat man versucht mich auf die Situation vorzubereiten und mir beigebracht, was ich im Ernstfall machen kann. Nur bereitet niemand junge Mädchen und Frauen auf die Gefühle vor. Die akute Angst und Panik im Ernstfall und die niemals endende Beklemmung und das Unbehagen, mit denen wir nach einer solchen Erfahrung leben müssen.